Darf er das? - Ein Böser in einer bösartigen Gesellschaft?
Ein Böser in einer bösartigen Gesellschaft?
Grenouille – ein verstoßener Einzelgänger, der 26 Morde begangen hat und damit sogar Jack the Ripper weit übertrifft. Dennoch tauchen wir Leser*innen in seine Welt mit den verschiedensten Emotionen ein. Von Mitgefühl bis zu Verstörtheit. Er ist beträchtlich mehr als nur ein Mörder und seine Bösartigkeit ist weitaus vielschichtiger und vom Autor aus verschiedenen Elementen konzipiert. Seine vergebliche Suche nach Identität ist von Anfang zum Scheitern verurteilt.
Laut Wörterbuch ist ein Mörder eine Person, die gemordet, einen Mord begangen hat. Doch es steckt viel mehr dahinter. Es lässt sich zwischen drei Hauptmotiven die zur Tat führen unterscheiden: Laut Kriminalpsychologe Gallwitz steht das „Kränkungsgefühl und [die] Verletzung des Selbstwertgefühls“ an erster Stelle, gefolgt von Habgier und materieller Bereicherung, während Rache an letzter Stelle steht. Des Weiteren zählen zu häufigen Tötungsgründen Eifersucht, Hass und Liebe. Es besteht kein Zweifel an der Tatsache, dass Grenouille ein Mörder ist, doch er ist kein Mörder im klassischen Sinn. Er tötet ohne jegliche Racheabsicht.
Die Morde sind für ihn eher als Last zu sehen, er will sie schnell hinter sich bringen, denn er tötet nicht um des Tötens Willen, sondern um den Duft der Mädchen zu besitzen. Dabei verhält er sich still, fast schon sanft, seine Taten erinnern eher an Andachten, während er beinahe meditativ neben seinen Opfern sitz und wartet. Dennoch zeigt er keine Reue für seine Morde, sie sind für ihn ein Mittel zum Zweck und für die perfekte Kreation seines Duftes unumgänglich.
Um seine Taten ansatzweise verstehen zu können müssen wir auf Grenouille als Person gucken. Eine Person, die von Beginn ihres Lebens von allen Menschen verabscheut und verstoßen wurde. Die sich nach Freundschaft und Liebe sehnt, während sie gleichzeitig die Menschen verachtet. Nach dem er bei seiner Geburt nur knapp dem Tod entkommen ist, verfolgt dieser ihn regelrecht. Nach seiner Mutter sterben fast alle weiteren Personen, mit denen er näher in Kontakt kommt.
Sein äußeres Erscheinungsbild trifft auf Ablehnung, im Kinderheim wird er gemieden, sogar versucht umzubringen, da die Anderen Angst vor ihm haben. Er ist ein Außenseiter und wird immer mehr zu einem. Auf der Suche nach einer Identität gelangt er an den menschenfernsten Ort in ganz Frankreich. Hier gerät er an einen Wendepunkt in seinem Leben, eine einschneidende Krise, die sein Leben aus der Bahn wirft. In einem Traum erfährt er, dass er über keinen Eigengeruch verfügt, was für ihn einem Identitätsverlust gleicht. Er führt die Ablehnung seiner Mitmenschen auf seine Geruchlosigkeit zurück und beschließt sich einen eigenen menschlichen Duft zu kreieren, welches ihm auch gelingt. In diesem Moment fühlt er zum ersten Mal die Macht, die Überlegenheit gegenüber den Menschen und übt diese aus. Seine Geruchlosigkeit ist nun mehr kein Nachteil, er kann die Menschen an der Nase herumführen kann, sie betrügen und täuschen und ihnen mit seiner Duftmaske jede gewünschte Identität vorspielen. All diese Ereignisse sind wichtig für seine späteren Taten und die folgenden Morde. Während der erste Mord an dem Mirabellenmädchen im reinen Affekt geschah, weil er überwältigt von ihrem Geruch war, waren die anderen geplant, einem langfristigen Zweck dienend. Durch das Machtgefühl angespornt beschließt er aus dem betörenden Duft eines Mädchens, welcher seinem ersten Mordopfer ähnelt, ein Meisterparfum zu entwickeln, das er mit einem „Duftdiadem“ aus 24 weiteren exquisiten Düften abrundet. So wird er erneut zum Mörder. Die Motive dahinter lassen sich auf sein Sehnen nach Anerkennung und dem Machtgefühl über die Menschen zurückführen.
Dies verdeutlicht, dass Grenouille jedoch nicht nur Täter, sondern auch Opfer ist. Ein von der Gesellschaft verstoßener Einzelgänger. Er wurde ausgebeutet, benutzt, musste unter unwürdigen Bedingungen leben und er wurde nie um seiner selbst willen beachtet, sogar seinen Tod nahm man in Kauf. Das Böse in einer gesamtheitlich bösen Gesellschaft. Sein ganzes Leben war er auf sich allein gestellt und er hatte keine Vorbildfiguren. So ist ihm nicht möglich die sozialen Beziehungen zu begreifen und für ihn ist nicht klar, dass er seine Taten hinterfragen müsste und er sich nicht richtig verhält. Er müsste die Folgen seiner Handlungen antizipieren, er ist nicht verrückt, sondern nur verlassen. Sein großes Ziel ist es die „Menschlichkeit“ zu erlangen und endlich Ansehen in der Gesellschaft zu finden.
Damit will ich nicht sagen, dass Grenouille völlig unschuldig ist, schließlich „[…] war [er] von Beginn an ein Scheusal [und] entschied sich für das Leben aus reinem Trotz und aus reiner Boshaftigkeit.“ (S.28), sondern nur, dass es nicht reicht auf die Anzahl der Mordopfer zu gucken.
Gleichzeitig lässt sich nicht abstreiten, dass Grenouille ein unverkennbares Genie ist. Er kennt alle Gerüche Paris´ und kann diese aus Entfernungen von mehreren Kilometer wahrnehmen, ordnen und neu erschaffen. Seine anderen Sinne braucht er nicht, um sich zurecht zu finden, selbst in dunkelster Nacht vermag er es den richtigen Weg zu finden. Bereits „Mit sechs Jahren hatte er seine Umgebung olfaktorisch vollständig erfasst.“ (S.34) und seine außergewöhnliche, ja fantastische Gabe entwickelt. Das Genie gilt als Schöpfererscheinung in menschlicher Gestalt und genau dies tut Grenouille in dem er völlig neue Düfte nach seinem inneren Geruchslager kreiert. Gleichzeitig schafft er aus seinen toten Mordopfern auf bizarre Weise einen neuen vollkommenen Duft. Schöpfer und Zerstörer sind in der Gestalt des Grenouille vereinigt. „Ohne Leidenschaft gibt es keine Genialität“ (Theodor Mommsen).
Zugleich ist er ein Künstler, der einzigartige, nie zuvor gesehene Dinge schafft. Sein Ziel, ein „Engelsparfum“ herzustellen, erreicht er ebenfalls, doch er kann diesen Moment nicht genießen. In „diesem Augenblick de[s] größten Triumph[s] seines Lebens“ (S.305) erreicht das mörderische Genie auch den Gipfel seiner Einsamkeit. Denn nicht er wird geliebt, sondern nur sein Meisterwerk, seine Duftkreation und sein einziger Wunsch wird ihm so nicht erfüllt: „Er wollte ein Mal, nur ein einziges Mal, in seiner wahren Existenz zur Kenntnis genommen werden und von einem anderen Menschen eine Antwort erhalten (…)“ (S.306). All das verhalf dem Duftkünstler nicht einen eigenen Geruch zu entwickeln und somit eine Identität zu finden und zurück bleibt ein Mensch, unfähig zu fühlen, zu lieben und geliebt zu werden. Seine Mitmenschen bringen ihm keinerlei Gefühle entgegen. Seine Allmachtsfantasien, die er in seinem inneren Imperium gelebt hat und mit seinem hochgesteckten Ziel zu erlangen versucht hat, waren am Ende nichts als eine Illusion. Er merkt, dass er durch diese Macht keine Identität erlangt und das Parfum ihn nicht zum Menschen macht. Obwohl er das perfekte Parfum kreiert ermöglicht dies es ihm nicht Liebe zu spüren Er kann die Liebe nicht auf künstliche Weise „produzieren“ und vermag sein Lebensziel nicht zu erreichen. Der Widerspruch, dass er sich nach der Zuneigung der Menschen sehnt, die er doch eigentlich so verachtet, wird ihm klar und er beschließt sein Leben zu beenden, weil es für ihn keinen Sinn mehr ergibt: „Und plötzlich wusste er, dass er nie in der Liebe, sondern immer nur im Hass Befriedigung fände, im Hassen und Gehasst werden“ (S.90).
Abschließend ist für mich klar, dass ein Mörder zu sein, nicht ausschließt, dass man ein Genie oder sogar Künstlers ist, der es vermag wunderschöne Dinge zu kreieren. Nicht ohne Grund heißt es nach Edgar Ellen Poe Wahnsinn und Genie liegen nah beieinander. Wir sind geneigt, Grenouille nicht eindeutig zu verurteilen, „weil er uns als Künstler begegnet, der von dem Wunsch geleitet wird, ein einmal gestecktes Ziel zur erreichen […] [und] nach der höchsten Vollkommenheit seines Werkes strebt.“ Seine Schöpferkraft ist an die Zerstörung gebunden und sein geniales Werk an Mord. Die traurige Tatsache, dass Grenouille in seinem gesamten Leben, nie das erleben konnte, nach was er sich sehnt, lässt uns einen Funken Mitleid mit ihm spüren. Das außergewöhnliche Genie ist also in der menschlichen Welt gescheitert.
Hanna Greiner, 11c
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